Wilgefortis und Ontkommer
Die Verehrung der Heiligen reicht ins 14. Jahrhundert zurück. Aus der Mitte des 15. Jahrhunderts stammen die in den damaligen Niederlanden zu lokalisierenden ältesten Textüberlieferungen von in der Volkssprache verfassten Abschriften. Sie erzählen von der zum Christentum bekehrten Tochter eines heidnischen Königs, die sich gegen eine vom Vater erzwungene Heirat wehrte. Ihre inständigen Gebete, verunstaltet zu werden, um dieser Heirat mit einem Heiden zu entgehen, wurden erhört: Ihr wuchs ein Bart. Der erboste Vater ließ die Jungfrau daraufhin „nach Art ihres gekreuzigten Gottes“ durch Kreuzigung hinrichten. Die frühesten Darstellungen aus den ersten Jahrzehnten des 14. Jahrhunderts zeigen sie als junge Frau, bärtig und gekrönt, mit deutlich weiblichen Gesichtszügen und Körperformen, in langem Rock und mit Stricken ans Kreuz gebunden. Hauptsächlich unter dem Namen Ontkommer wurde der Kult ab 1400 – bezeugt durch diese rheinischen und niederländischen Bilderhandschriften – an den Niederrhein, nach Köln, den Mittelrhein und bis an die Ostseeküste vermittelt. In den protestantisch gewordenen Gegenden des Nordens verschwand die Verehrung der Wilgefortis/Ontkommer, blieb aber in katholischen Regionen Belgiens und Nordfrankreichs bis ins 20. Jahrhundert lebendig.
Kümmernis
Vom Mittelrhein gelangte der Ontkommerkult nach Süddeutschland und in den Alpenraum. Hier nahm die Figur ab etwa 1470 den hochdeutschen Namen Kümmernis an. Zu ihrer Darstellung wurden nicht die spärlich vorhandenen Wilgefortis/Ontkommer-Vorbilder aus flämisch-rheinischer Provenienz benützt, sondern die Schemata der in der Region bereits verbreiteten Volto-Santo-Wandbilder. Diese gehen zurück auf das Vorbild eines Kruzifixes in Lucca, das Christus am Kreuz zeigt, bärtig, gekrönt und gekleidet in das gegürtete Colobium, die spätantike Tunika, wie es der Darstellungstradition des Kruzifixes von frühchristlicher Zeit bis zur ottonischen Kunst entspricht. Da das Gnadenbild eines der populärsten mittelalterlichen Pilgerziele war, verbreitete sich der Lucceser Bildtyp nachhaltig in den nordeuropäischen Raum. Die Übernahme dieser Vorlagen in die Gestaltung der Kümmernis erfolgte jedoch erst nach dem Import des Kultes in die Landschaften des Südens, sie begründete ihn also nicht, sondern war ein rein ikonographischer Vorgang.
Die Textüberlieferung wurde angereichert durch weitere Wunderberichte und Legenden, von denen vor allem die ebenfalls aus Lucca übernommene Spielmannslegende von Bedeutung ist: Vor dem Bilde geigte einst ein in Not geratener Spielmann, den die Heilige mit ihrem herabgeworfenen kostbaren Schuh entlohnte. Der daraufhin des Diebstahls angeklagte Geiger bewies seine Unschuld, indem er erneut vor dem Bilde bittend, von der Heiligen auch den zweiten Schuh zugeworfen bekam. Der Holzschnitt von Hans Burkmair (Abb.) aus dem Jahr 1507 enthält all diese Elemente und ist begleitet von dem ersten deutschsprachigen Text der Kümmernis-Legende. Bei den undatierten und unbezeichneten Bildern dieses Typs aus den Jahrzehnten nach 1470 ist wegen der ikonographischen Übereinstimmungen nicht immer sicher, ob sie für die Verehrung des gekreuzigten Christus oder als Darstellung der Kümmernis zu gelten haben. Die jeweilige Funktion kann nicht aus der Ikonographie heraus abgeleitet werden. Hierfür müssen archivalische, sozial- und frömmigkeitsgeschichtliche Zeugnisse der jeweiligen Kirche und des Ortes herangezogen werden. Auch Mißverständnisse der Entstehungszeit und sogar bewusste Umdeutungen späterer Epochen sind nicht auszuschließen. In Süddeutschland und den Alpenländern hat sich die Verehrung der Heiligen bis über die Barockzeit hinaus fortgesetzt. Erst seit der Aufklärung verschwand hier der Kult weitgehend aus dem offiziell vorgegebenen kirchlichen Rahmen. Noch in jüngster Zeit hat jedoch die Wallfahrtskirche St. Wilgefortis in Neufahrn bei Freising ihr Patrozinium wieder in den Vordergrund gestellt.
Hinweise
- Quelle
- Wikipedia